Linde Burkhardt Texte

Burghart Schmidt: Mythenkritik im Freispiel vom Ornamentalen

Juni 2013

Die Künstlerin Linde Burkhardt hat keine Scheu vor dem, was man so angewandte Kunst nennt. Obwohl sie von dem gehört hat, was an Zweifeln zur Anwendbarkeit von Kunst vorgetragen wurde. Am schärfsten hat ja Theodor W. Adorno deklariert, dass es angewandte Kunst nicht gibt; denn in der Anwendung würde Kunst aus dem Gestalten verschwinden durch die Preisgabe ihrer Autonomie. Unter der radikal reine Kunst verfolgenden Perspektive Adornos ist das unbezweifelbar zutreffend.

Doch es passiert ständig geschichtlich wie gegenwärtig ein Übersetzen von gestalterischen Einfällen und Entwicklungen der Künste in das Gestalten unserer alltäglichen Gebrauchs- und Verbrauchswelten, und zwar ist Solches wesentlich für das, was man Produktgestaltung nennt und heute lieber Design überhaupt. Insofern ist die Wortwahl angewandter Kunst nur ein etwas eilfertiger Ausdruckspfusch wie –husch. Aber die Klärung von nun einmal eingebürgerten Wortwahlen und Begriffen ist unleugbar eine wichtige theoretische Aufgabe, aber im Fall eines Zweifels an der Treffsicherheit wird eine solche Klärung die Wörter und Begriffe nicht mehr aus der Welt schaffen. Man muss sich eben deswegen ihrer Ungenauigkeit, ihrer Versuchung zu Missverständnissen nur bewusst sein. Dann kann man es mit ihrem weiteren Gebrauch aufnehmen. Schließlich ist gerade der Begriff angewandter Kunst der deutschen Sprache nun einmal kräftig eingeschrieben durch den Namen, den eine weltbekannte österreichische Kunsthochschule sich gab und nun auch als Universität weiter führt: „Universität für angewandte Kunst Wien“.

Der Zweifel an Anwendbarkeit der Kunst ist sich Linde Burkhardt bewusst und hat die Auseinandersetzungen darüber durchaus zur Kenntnis genommen, aber sie hat sich dadurch nicht kopfscheu machen lassen und umfangreich mit Alessandro Mendini kooperiert und für Alessi und Driade gearbeitet, dabei eigene Serien von Tellern, Schalen, Vasen, Tabletts und so weiter gestalterisch entwickelt, die insofern allerdings einen Zug der Kunst in sich tragen, als sie eine eigene Handschrift vorführen, unverwechselbar, unaustauschbar. Aber noch zum Weiteren entfaltet dabei Linde Burkhardt weitgespannte Serien, die insgesamt Ornamentsysteme hervorrufen, allerdings mit Reihung des Variierten und nicht so sehr mit Reihung der Wiederkehren (Redundanzen). Daher stehen diese Arbeiten, obwohl ganz im Gebiet des Designerischen, in Zusammenhang mit dem Kunstthema einer Suche nach dem Neuen Ornament seit Jugendstil und Fauvismus, damals durch die beiden Bewegungen zu Bildthema erhoben.

Das Seriale bei Burkhardt zeigt schon auf der Ebene des Designs die Prozesse auf im Entwickeln Neuer Ornamentik, also die Geschichte dessen, was in die Darstellungsfunktion der Kunst übergreift und über die Gebrauchsfunktion hinaus ist. Schließlich hat Ernst Gombrich in der Kunstgeschichte der Menschheit zwei starke Wesenstendenzen ersehen, die Tendenz zur naturalen Illusion und die Tendenz zum abstrahierenden Ornament. Denn selbst wo die einzelnen Ornamentmotive äußerst natural sich zeigten, würden sie in abstrakte, ja konkret-konstruktive Systeme einbezogen. Die letztere Tendenz steigerte Gombrich in seinen Untersuchungen über das Ornament als Kunstthema sogar zu der Aussage, Konkrete Kunst bedeute nachhaltig den Sieg des Ornaments über die naturale Illusion, obwohl die Schöpfer der Konkreten Kunst selber, Malewitsch, Kandinsky oder Albers etwa, sich ihren Aussagen nach der Bewegung gegen das Ornament zuordneten.

Sei dem, wie dem wolle: Den Weg vom Design zur Kunst geht Linde Burkhardt Schritt für Schritt weiter. Aus dem Vasenhaften, dem Amphorischen bildet sie das Stelenhafte heraus, das ja schon in der Antike dem Amphorischen zugesprochen wurde, indem man damals übermannshohe Amphoren als Grabmäler aufstellte. Und dann setzte Burkhardt solche Übergänge oder Übersetzungen ein für Geschichten, die ihren Intentionen entsprachen. In den vergangenen 3 Jahren hat Burkhardt zwei große Projekte realisiert: „Die Mitgift der Prinzessin von Trapezunt“ für eine Ausstellung der Neuen Sammlung in der Pinakothek der Moderne, München und „Percursos“ für Portugal, in Porto und Lissabon. Die Legenden um die Prinzessin von Trapezunt ranken sich zurück in die Heiligenlegenden um Sankt Georg, wie auch das Fresko von Antonio Pisanello in Verona bezeugt. Sankt Georg, der Drachentöter, ist ein widersprüchlicher Heiliger, nicht in erster Linie Martyriumsopfer, sondern drachentöend ein Täter,obwohl im Endeffekt auch ein Martyrium kommt., Heiliger der Ritter in seiner Siegfriedpose. Das Portugalprojekt basiert teilweise auf den Überlieferungen zu Heinrich dem Seefahrer, der die ersten Kolonialisierungsunternehmungen Portugals organisierte zu den Inselgruppen im Atlantik und die westafrikanische Küste entlang., noch vor Kolumbus. Dazu wird aus historischen Quellen mitgeteilt, dass Heinrich seine Schiffe Setzsteine, man könnte auch sagen steinerne Stelen, mit auf die Reise nehmen ließ, um sie überall dort aufzustellen, wo Portugal für die Zukunft Besitz ergreifen wollte. Die Setzsteine oder Stelen trugen entsprechende Symbole, Wappen und Inschriften, die Stelen waren also zugleich Gedenkzeichen, hier waren wir ( Killroy was here ) wie drohende Grenzsteine, bis hierher und nicht weiter bei fehlendem Passierschein. Schon in den Überlieferungen, auf die sich Burkhardt bezieht, mischen sich offensichtlich jüngere Mythen mit uralten. Denn Trapezunt als Fürstentum, gar Kaiserreich, mit seiner Prinzessin in fernen Heiratsaussichten per Ausfahrt nach Portugal und doch, der Herkunfts-Gegend wegen, an die Argonautensage, auch eine Seefahrtsgeschichte, erinnernd, Kolchis, Jasons Ziel, liegt nicht weit von Trapezunt, das könnte doch erst ab dreizehntem Jahrhundert sein, als Trapezunt ein Kaiserreich wurde. Und Heinrich der Seefahrer, das ist fünfzehntes Jahrhundert. Aber die Töterei von Ungeheuern als Rettung derer, die ihnen im mythischen Zwang geopfert werden müssten, oder das Zeichen in Form von Stelen setzende Ausfahren zur See, man denke an die Säulen des Herakles/Herkules, das sind Uraltmythen.

Burkhardt bringt sie mit ihren aus dem Vasenhaften abgeleiteten Stelen zur Prinzessin von Trapezunt fürs Heute zusammen und erinnert an das auch Aufklärende und über weite Strecken kommunikativ Verbindende, Transferierende der Großen Ausfahrten, so sehr diese mit dem unterwerfend-Erobernden des Kolonialisierens zu tun haben, die Schönheit im Fascinosum des Neuen, Unerfahrenen und das gierige Verfallensein an den Erwerb tanzen miteinander auf dem Blocksberg.

So werden aus dem Amphorischen, dem Vasischen Stelen als Eingedenkzeichen in höchster Vielfalt der Abwandelbarkeiten von starker Eleganz, aber auch von nachhaltigem Ausdruck der Emotionen abgeleitet, übersetzt, transformiert. Sie sind zu sehen und erfreuen, die Geschichten über die Prinzessin von Trapezunt, gar über Heinrich, den Seefahrer sind nicht zwingend dem, was man sieht, Installationen aus vasen- und amphorenhaften Stelen in reizvollen Gruppierungen, zu entnehmen. Man müsste eher die Installationen von der Konkreten Kunst her auffassen, in vorsichtigen Schritten aus den wie gewählten und wie behandelten Materialien. Der über Symbolik laufenden Interpretation bleibt das Stelische, Vasische, Amphorische immerhin in dessen Bedeutungshof.

Und doch haben die Mythen für das, was die Künstlerin im Sinn der Geschichten von der Prinzessin von Trapezunt und von Heinrich dem Seefahrer darstellte, für das Verständnis dieser Darstellungen eben ein größeres Gewicht aufzuweisen über bloße Titelassoziation hinaus. Denn sie waren dem Vorstellen der Künstlerin bei Produktion der Installationen ständig gegenwärtig, wirkten also ein in ihr Gestalten, so konkret-künstlerisch dieses ausfiel jenseits der Symbolik und ihrer Hermeneutik.

Mit dem neuen Projekt nun für Gaeta, stellt sich Burkhardt verstärkt und nachhaltig betont in die „Arbeit am Mythos“ (H. Blumenberg) ein. Und zwar, wo sie ihrer Lebensgeschichte nach aus dem Kultur- und Kunstgeist der 60er Jahre in Europa herkommt und aus ihm heraus arbeitet, prägt ihre Auffassung vom Mythos besonders das, was die Diskussionen jener Jahre dazu auseinandersetzten. Da war einmal die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers und dann Ernst Bloch, die bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit zum Mythos in einem einig waren, das Mythische sei eine Weise der Aufklärung gewesen, die aber in der Selbstbehauptung gegenüber neuen Stufen der Aufklärung zu Ideologie im Sinn von Antiaufklärung umschlug. Insofern sei der Mythos wesentlich bestimmt durch einen Grundwiderspruch zwischen Aufklärung und ihrer Verhinderung.

Ernst Bloch charakterisierte diesen Grundwiderspruch als den zwischen Herrenmythos und Knechtsmythos, gemäß Hegelscher Ausdrucksweise. Aber dem stellte er besonders die Lehre hinzu, dass es nicht nur den alten Mythos gäbe, sondern dass Mythen historisch ständig neu entstünden, vielmehr von Menschen hervorgebracht würden. Da begegne man einerseits im Uralten dem Mythos von dem Tanz auf den Asphodeloswiesen. Und dann sei historisch-tranformativ hinzugetreten der Mythos vom Tanz auf den Trümmern der Bastille (1789).

Ganz entsprechend diesem Lehrsatz von Bloch, ohne ihn allerdings unbedingt gelesen zu haben, entwickelte sich die Mythosdebatte jener so debattenreichen Zeit der 60er Jahre vorigen Jahrhunderts. Da stand auf der einen Seite der Strukturalismus des Lévi-Strauss, der sich voll auf die alte Mythik richtete, und da war der semiologisch orientierte Roland Barthes, den das ständige Neuentstehen von Mythen interessierte, besonders in der Waren-Werbung und der politischen Propaganda, durch die laufend mit Absicht und Plan neue Mythen ausgekocht produziert würden. Beide aber, Lévi-Strauss wie Barthes, waren sich darin einig, dass dem Menschen ein ständiges Entmythologisieren so nötig sei wie er nicht davon abließe, allerdings um den Preis, dass einerseits alles Entmythologisieren wiederum in neuer, anderer Mythik lande, andererseits schon im Entmythologisieren neue Mythen einsetzen müsse. Mythen seien allein durch Mythen zu schlagen.

Von solcher Diskussionsatmosphäre voll ist die Arbeit Burkhardts nun besonders in ihrem Gaeta-Projekt. Es geht darin um spielende Mädchenfiguren, ganz dunkel in Fastschwärze. Sie sind von den antiken griechischen Vasen herabgestiegen und stehen jetzt im Raum ehe sie mit ihrer Welt- und Selbsterkundung spielend beginnen. Die Figuren spielen entweder in transparenten Vasen und Amphoren oder spielen aus ihnen heraus und um sie herum. Einerseits erinnern sie an eine Skulptur von Henri Matisse, 1909 entstanden, „La Serpentine“, von der sie sich allerdings unterscheiden durch viel höhere statische Problematik in ihrem freien Spiel. Die Figur von Matisse stützt sich in aller sich lockernden Eleganz auf einen Pfeilerstumpf, während Burkhardts Figuren in ihrem freien Spiel ohne solche Stütze auskommen müssen, ja ihre statische Problematik wird noch verschärft aus der Absicht der Künstlerin heraus, auch den frei spielenden starken Wind des Außen um die Figuren herum durch die Frisuren der Mädchen auszudrücken, die nach allen Seiten wehen in Haarmassen.

So wird man andererseits ganz besonders erinnert an Figuren aus der altgriechischen Vasenmalerei, schwarz auf rotem Keramikgrund. Doch dort waren diese eingebunden in Ornamentbänder und bei aller ihrer eigenfiguralen Lebhaftigkeit und der Lebhaftigkeit der Geschichten, die sie darstellten, streng zusammen gezwungen in Reihungen. Burkhardts an sie erinnernde Figuren aber wirken deswegen gerade so, als wären sie dabei aus solcher strikten Eingebundenheit des Ornamentalen auszubrechen, aus diesem sich freizuspielen in freie Spiele entgegen durchregulierten, gleichsam ein Beitrag zur Spieltheorie.

Das passt aufs Genaueste zu dem Mythos, dessen Vorstellung die Produktion der Künstlerin leitete. Darin ging es darstellend um jenen Passus aus Homers Odyssee, der davon berichtet, wie der durch Seeunheil und zugleich Seerettung angelandete, gestrandete Odysseus an der Küste fremder Insel voyeurshaft unentdeckt zunächst dem freien Spiel der Phäakinnen zusammen mit ihrer Prinzessin Nausikaa zuschaut. Diese haben sich befreit von der ihnen aufgetragenen Wascharbeit zu einem Spielen, das sie vergnügt, ohne dass dabei etwas Anderes herauskäme als Vergnügen. Und sie spielen auch kein irgendwie bekanntes Spiel, sondern Alles durcheinander. Selbst Odysseus an dieser Stelle seiner Abenteuerprozesse macht ja eine Art von Ausbruch und Wende aus seiner personalen Festgeschriebenheit durch, dem das beobachtete Spiel ohne Regeln entspricht. Bis zu seinem Angespültwerden an die Gestade der Phäaken ist er der Macher seiner Abenteuer und ihrer Auswege, die bisweilen ja nur das letzte Schlupfloch sind. Ab nun wird dank Nausikaa für ihn gesorgt, er wird besorgt. Und so kann es zu dem Umstand kommen, dass sich von diesem puren Macher und Täter sagen lässt: „Schlafend kam Odysseus nach Ithaka“, seinem Hauptziel von Troja/Ilion her. Erst auf Ithaka erwacht er aus seinem Auszug in die Passivität wieder zur alten Täterschaft, seinem Lebenszwang, während Nausikaa, die ihn aus seinem Lebenszwang befreite, in die Nebel der freien Ferne verschwunden ist. Daher hat sich Linde Burkhardt doch nicht nehmen lassen, auch den Odysseus entsprechend der Nausikaa-Geschichte zu figurieren, doch er ohne alle statische Problematik liegend auf Bauch und Brust, mit zum voyeurshaften Beobachten aufgerecktem Kopf, letzte Erinnerung an seine Zwangshaftigkeiten.

Damit trägt die Künstlerin tatsächlich Bahnen der tradierten Mythengeschichte in ihre Darstellung ein. Doch tatsächlich lässt sich ihrem Dargestellten ansonsten nur das Große Sichfreispielen spielender Mädchen oder Frauen aus Ornamentzwängen des Tradierten über den sinnlichen Eindruck des Sehens entnehmen, nimmt man nicht lesend die Titel zur Kenntnis. Genau so wie vorher zur Projektion der Legenden um die Prinzessin von Trapezunt ist jedoch zu betonen, dass der Mythenstoff vorgestellt der Künstlerin während der Produktion ständig präsent war, und in solcher Hinsicht ist er doch wichtig, ja äußerst bedeutsam zum Verständnis dessen, was es im Gaeta-Projekt zu sehen gibt. Da geht es nicht um eine flüchtige Assoziation zum Ort der ersten Ausstellung zwischen Ionischem Meer und Tyrrhenischem Meer, den Hauptmeeren odysseeischer Abenteuer.

In solcher Wesentlichkeit des tradiert Mythischen für das Hervorbringen eines Neuen Mythos regt und bewegt sich entmythologisierende Mythenkritik, die selber den Mythos einsetzt, das gilt fürs Gaeta-Projekt Linde Burkhardts so wie zuvor für die Prinzessin von Trapezunt un ebenso für das Projekt um Heinrich den Seefahrer. Ihr Neuer Mythos erzählt vom freien Spiel der frei Spielenden aus den Einkastelungen heraus, die übertanzt werden. Oder sind diese Spielenden dabei, sich in eine neue Ordnung zu tanzen? So wie das bei dem zu einer Skulptur schon erwähnten Henri Matisse mit dem sein Lebenswerk durchziehenden Bildthema „Der Tanz“ geschehen ist? Dort aber die Tänzerinnen im Rot der altgriechischen Vasenmalerei, dem Keramikrot des Grundes, ausgespart aus der malerischen Schwärzung. Die Schwärzung fehlt allerdings bei Matisse, seine Stelle vertreten verschiedene Farben des Expressionistischen, wie sie sich auch im Fauvismus regten. Und bei Linde Burkhardt ist hauptinhaltlich in ihrer Odyssee der Keramikgrund zu verlassen um des Fragens willen über die Säulen des Herkules hinaus, entgegen den Beschlüssen, Verschlüssen, was ja die andere Seite der Vasen und Amphoren ausmacht.