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Bazon Brock: Zu neueren Arbeiten von Linde Burkhardt 2014
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Experimentelle Archäologie – Der Ausstieg aus dem BildeZu neueren Arbeiten von Linde Burkhardt Seit den 1970er Jahren erweiterten Archäologen ihre wissenschaftlichen Arbeitsmethoden in ganz erheblicher Weise durch die Entwicklung der „experimentellen Archäologie“. Sie versuchten, aus den Spuren und Elementen der „toten“ historischen Artefakte nicht nur deren materielle Gestalt zu rekonstruieren, sondern Verhaltensweisen und Einstellungen ihrer jeweiligen Nutzer probeweise, gesteuert von Hypothesen der „historischen Imagination“, zu vergegenwärtigen. Diese archäologischen Rekonstruktionen, die im wesentlichen nur Momentaufnahmen der gedachten historischen Situationen darstellten, verlebendigten sie, indem sie sie als in real time verlaufende Szenen des Alltagslebens präsentierten. Um das zu erreichen, stellten die Archäologen ein Team von Akteuren zusammen, wie Theaterregisseure ein Schauspielerteam für die Vorführung eines historischen Dramas der Antike oder der Renaissance bilden. Die Regisseure erproben auf der Bühne eine bestimmte Vermutung, ein Konzept, eine Auffassung der möglichen Bedeutung der historischen Dramenvorlage. Das führen sie dem Publikum vor, um durch Rückmeldung zu erfahren, inwieweit ihr Konzept sinnfällig sein konnte oder wo es kognitive Dissonanzen gab zwischen dem Plan des Regisseurs, der theatralischen Realisierung, der angenommener Wirkungsabsicht des Dramatikers und dem Verständnis des Publikums. Was brachte ein derartiges Verfahren den Archäologen an Erkenntnissen ein? Zum Beispiel: Sie fanden heraus, wie lange die Herstellung eines Steinwerkzeugs oder eines Arbeitsgeräts aus Hirschhorn oder Tierhäuten dauerte, in welchem Verhältnis der Aufwand der Herstellung zur Dauer der Nutzung des Geräts stand, welche spezifischen Handgriffe oder sogar komplexe Verfahren für Herstellung und Gebrauch von der untersuchten Population trainiert werden mußten. Die gewonnenen Erkenntnisse ließen sich durch diese Experimente unter Lebendbedingungen gewichten und umfassend interpretieren. Heute akzeptiert man dieses Vorgehen vornehmlich als Verfahren der docufiction mit der Nachstellung von einzelnen Ereignissen in Geschichtsdarstellungen. Kunsthistorisch arbeitende Kuratoren nutzen das gleiche Verfahren als reenactment, wenn sie etwa performances oder happenings oder action teachings der 60er/70er/80er Jahre in Ausstellungen real life präsentieren. In auffälliger Weise stellen Verlage gegenwärtig die sogenannten Roman-Comics vor die originären Romane. Das heißt nicht, Texte durch Bilder zu ersetzen, da ja die einzelnen Comic-Bilder ganz entscheidend von der Sprache ihrer Textblasen leben. Die Comics sind auch nicht nur eine Variante der üblichen Romanverfilmung, sondern ? Siehe unten. In den 1920er Jahren übertrugen Psychologen die Erfahrungen der Theatermacher auf die Durchdringung der Biografie von Individuen, um diese mit ihrem eigenen Lebenslauf zu konfrontieren und durch den Prozeß immer weiter gehender Durchdringung der vermuteten seelischen Erfahrungen dem Patienten zu helfen, sich selbst realistisch zu sehen und zu akzeptieren. Damals nannte man das Psychodramatisierung. Die Betonung einzelner Verfahren des Psychodramas wurde sogar zum Namensgeber für Therapieschulen; jedem Zeitgenossen dürfte die sogenannte Urschreitherapie geläufig sein. Sie reinszeniert für einzelne Patienten den dramatischen Vorgang der Geburt durch Austritt aus dem mütterlichen Körper bis zu dem Höhepunkt des einsetzenden Atmens im ersten Schrei. Der Nachvollzug dieses Urerlebnisses ermöglicht den psychodynamisch zu therapierenden Patienten einen neuen Beginn in einem premier cri durch vorbehaltlose Identifizierung mit sich selbst als Neugeborene. Gegenwärtig entwickelt die Berliner Künstlerin Linde Burkhardt eine höchst interessante Parallele zum Vorgehen der Archäologen, der Theatermacher, Comic-Zeichner und Psychodramatiker. Rein formal betrachtet, kehrt sie das Verfahren der zeitgenössischen Literatur-Comics um, indem Romanvorlagen, das heißt komplexe Erzählungen, in Bildvisionen umgesetzt werden. Zu einem Teil reagieren die Literatur-Comics auf die allgemeine Erfahrung, die mit der Verfilmung von Romanen gemacht wird. Immer häufiger wird geäußert, dass die Verfilmung einer Erzählung deren Wirkung beschneide, weil durch das real life-Agieren die Phantasie des Lesers eingeschränkt werde. (Phantasie entspricht der Fähigkeit zur Hypothesenbildung, siehe oben.) Der Literatur-Comic vermeidet diese Einschränkung, indem er zwischen den einzelnen Bildern genügend Raum für schweifende Phantasien des Leserbetrachters bewußt offen läßt. Linde Burkhardt will die Räume zwischen den einzelnen Bildfeldern auf antik-griechischen Vasen mit ihren Mädchendarstellungen zu neuen Assoziationsfeldern erweitern. Sie läßt Figuren aus den zweidimensionalen Darstellungen aussteigen. Der Ausstieg aus dem Bilde wird aber nicht in eine Erzählung übersetzt, sondern eben in einen Wechsel der Modalität. Aus zweidimensionalem wird dreidimensionales Geschehen, für das es aber keine definierte erzählerische Vorlage gibt. Vielmehr muß der Ausstieg aus dem Bild, die Erweiterung des Bildes zu einem realen environment, in einer Vielzahl von Zuordnungen der aus dem Bilde gestiegenen Figuren erfolgen. Diese treten in immer erneute, experimentell entwickelte Beziehungen zueinander; die dabei entstehenden Gruppen können vom Betrachter auch als psychologische Beziehungsgefüge interpretiert und durch die Interpretation zu immer weiter gehenden Konstellationen gefügt werden. Schon Lessing, der Urvater der deutschen Dramaturgie, zeigte, wie das Interesse an solchen Konstellationen geweckt wird. Die bildliche Darstellung eines Ereignisses, meinte Lessing, werde dadurch spannend/interessant, daß der Betrachter des Bildes durch das Bild selber noch nicht erfahren kann, wie der geschilderte Augenblick sich in den weiteren Verlauf der Erzählung fügt. Wenn ein Maler, so Lessing, einen Hund oder ein Pferd beim riskanten Sprung über ein ungewöhnliches Hindernis darstellt, besteht die Attraktivität der Darstellung für den Betrachter darin, dass er nicht weiß, ob dem Tier der Sprung tatsächlich gelingt oder ob es in dramatischer Weise scheitern wird. Im Unterschied zu dem televisionären Verfahren der Reduktion von Ereignissen auf ihren Höhepunkt – eine Sensation nach der anderen – leitet Lessing dazu an, sich auf die Momente vor dem Höhepunkt zu konzentrieren und die Imagination des Höhepunkts dem Betrachter zu überlassen. Was bringt das Vorgehen von Linde Burkhardt, gerade wenn sie im Ausstieg aus den Bildern der Vasenmalerei in etwa die Größenverhältnisse der jetzt dreidimensionalen Figuren aufrecht erhält, wenn sie Ausdruck, Attitüde und Anmutung beibehält? Wenn wir antike Vasenmalereien betrachten, sind wir bei der Interpretation immer schon der Überzeugung, die Darstellungen seien Verbildlichungen von in der Antike allgemein bekannten Mythologien oder Epen, Götter- oder Heldengeschichten. Unser Verständnis der dargestellten Szenen wird also stark eingeschränkt auf die literarischen Vorlagen, die sie nach allgemeiner Einschätzung illustrieren – bloß illustrieren. Linde Burkhardt veranlaßt den Betrachter durch ihr Verfahren, die Bilder ohne Fixierung auf einen zugrunde liegenden Text zu Erzählungen zu verlebendigen. Burkhardts Frage lautet: Welche Vorstellungen wecken die Bilder durch ihre eigene Logik der Dramatisierung, durch die Kennzeichnung der Figuren und die Typisierung ihres Ausdrucks? Burkhardt überführt die bildlichen Darstellungen aus dem Status bloßer Illustration eines vorgegebenen Textes in originäre Bildpoesien und deren Erschließung in der Öffnung des Bildraums in den Lebensraum des Betrachters hinein. Dies entspricht in etwa den Erfahrungen, die wir als Kindern machten, wenn wir mit Holzspielzeug zum Beispiel das Geschehen in einem Zoo simulierten oder die Phantasien um die Arche Noah nachbauten. Im übertragenen Sinne zeigt Linde Burkhardt, wie Bilder leben, nämlich durch unsere Kraft zur Beseelung des toten Materials. |
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